4. (Evolutions-) Biologen: Altruistisches Verhalten ist egoistisch!
4.1. Erklärung des Beispiels „Warnung vor dem Feind“
Die Idee, ein Herdentier könnte sich nach der Entdeckung eines Räubers heimlich zurückziehen in der Hoffnung, dass der Räuber es nicht bemerkt, erscheint naiv. Schließlich würde das Tier alleine fliehen und sich von der schützenden Gruppe entfernen. Tatsächlich greifen Räuber eher einzelne, von der Gruppe separierte Tiere an. Das Tier, das sich also zumindest als erstes von der Gruppe entfernt, vergrößert sein persönliches Risiko. Eine bessere Idee ist es, zwar zu fliehen, aber dafür zu sorgen, dass alle anderen das auch machen. Und insofern ist der Alarmruf zwar auffällig, aber überlebensnotwendig. Das Tier warnt also nicht aus altruistischen Gründen seine Artgenossen vor der Gefahr, sondern aus egoistischen Motiven heraus. Nur so kann es überleben.
Doch wie verhält es sich in den anderen drei Beispielen? Hier sind die Verhältnisse anders, denn die einzelnen Akteure sind miteinander verwandt.
5. Verwandtenselektion
In diesem Zusammenhang hilft ein weiteres Beispiel. Im Jahr 1973 brach in einer Freizeitanlage auf der Isle of Man ein Feuer aus. Es gab 50 Tote, 148 überlebten die Katastrophe. Diese Personen wurden später zu den Vorgängen am Unglücksort befragt (verändert aus Sime, 1983). Die Ergebnisse zeigt die Tabelle, lesen Sie sie von links nach rechts.
148 Überlebende | 128 in einer Gruppe | 87 in einer Gruppe mit anderen Familienangehörigen (Verwandte!) | 57 gerade zusammen | 67% retteten sich gemeinsam |
30 Familien getrennt | 50% suchten sich auf der Flucht | |||
41 in einer Gruppe mit Freunden (keine Verwandten!) | 22 gerade zusammen | 25% retteten sich gemeinsam | ||
19 Freunde getrennt | 0% suchten sich auf der Flucht | |||
20 alleine |
Von den 148 Überlebenden (s. Tabelle) waren 128 für die Forschung interessant, da sie nicht alleine, sondern mit einer Gruppe den Freizeitpark besucht hatten. Diese 128 Überlebenden waren dabei ursprünglich entweder in einer Gruppe mit anderen Familienmitgliedern zusammen (Verwandte!) oder befanden sich in einer Gruppe aus Freunden (nicht verwandt). Diejenigen, die mit ihrer Familie da waren und zum Zeitpunkt des Unglücks auch zusammen waren, retteten sich wesentlich häufiger als die Freunde untereinander (67% gegenüber 25%). Wenn die Gruppen getrennt waren, suchte jedes zweite Familienmitglied auf der Flucht ein anderes, während keiner der Freunde einen anderen Freund suchte (50% gegenüber 0%).
An dieser Stelle ist es sinnvoll sich noch einmal die Rolle der Gene ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich wiederhole einmal:
„Ein Verhalten [kann] in den Nachkommen nur vorkommen, wenn es dem Besitzer des entsprechenden Gens nützt, er einen so genannten Selektionsvorteil hat.“
Das altruistische Verhalten derjenigen Personen, die unter Einsatz ihres Lebens andere Familienmitglieder gerettet haben, muss also in der Vergangenheit vorteilhaft gewesen sein, sonst wäre das entsprechende Gen nicht mehr existent und das Verhalten nicht mehr zu beobachten. Oder so ausgedrückt: Ein Verhalten, dass zur Bewahrung und Weitergabe des altruistischen Gens führt, fördert sich selbst, weil das Gen das Verhalten ja erneut induziert.
Somit spielt es aber keine Rolle mehr, ob es sich dabei um das eigene Leben handelt: Es spielt eine Rolle, ob es das eigene Gen ist, das durch das altruistische Verhalten bewahrt wird. Da Verwandte eben deshalb miteinander verwandt sind, weil sie zumindest zu einem Teil das gleiche Erbgut besitzen, fördert altruistisches Verhalten zwar nicht das Überleben des eigenen Gens, wohl aber das Überleben des gleichen Gens in einem Verwandten. Und ein solches Verhalten heißt Verwandtenselektion.
Daher, so die Theorie der Verwandtenselektion, retten sich die Familienangehörigen gegenseitig. Die Freunde, deren Erbgut nicht gleich ist, müssen ebenfalls für die Bewahrung ihrer Gene sorgen und sorgen sich deshalb nur um sich. Keiner von ihnen kümmerte sich während der Katastrophe um einen anderen Freund, denn die besitzen nicht die gleichen Gene.
Verwandtenselektion
Evolutionsmechanismus, der als Basis die gemeinsame Abstammung braucht. Durch entsprechendes Verhalten gegenüber Verwandten mit abstammungsgleichen Genen wird die Fitness des Verwandten so gesteigert (selbst wenn die eigene sinkt), dass das eigene Gen in den Nachkommen öfter vorkommt.
5.1. Erklärung des Beispiels „Mutterliebe“
So erklärt man auch das o. g. Verhalten der Vogeleltern, die sich unter Einsatz ihres Lebens um den Schutz der Nachkommen bemühen. Diese besitzen ja das Erbgut ihrer Eltern.
Erinnern Sie sich noch an Richard Haldane und seine Äußerung, er würde zwei Brüder oder 8 Cousins retten, wenn er selber dabei stirbt?
Nach der Verwandtenselektion geht das deshalb, weil seine Verwandten seine Gene besitzen und das Überleben der Verwandten zum Überleben der eigenen Gene führt. Die unterschiedlichen Zahlen ergeben sich durch den Grad der Verwandtschaft. Im Schnitt ist Haldane mit seinen Brüdern nämlich zu 50% verwandt (s. unten). Durch zwei gerettete Brüder erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, seine Gene gerettet zu haben, auf 100%.
Oben ist ein vereinfachtes, so genanntes Kreuzungsschema dargestellt. Der Vater gibt in diesem Beispiel ein Gen weiter. Er besitzt von seinem Vater und seiner Mutter jeweils eine Variante davon, hier dunkel- und hellblau dargestellt. Ähnlich ist es bei der Mutter, sie hat von dem Gen eine väterliche und mütterliche Version (schwarz und grau) geerbt bekommen.
Beide können aber nur jeweils eine Variante an ihre Kinder, die in den vier Feldern in der Mitte der Tabelle stehen, weitergeben. Da dies vom Zufall abhängt, ergeben sich vier mögliche Kombinationen: dunkelblau-schwarz, dunkelblau-grau, hellblau-schwarz und hellblau-grau. Mathematisch ausgedrückt: Die Nachkommen sind also zu 50% mit jeweils einem ihrer Eltern verwandt.
Haldane verglich sich in seinem Rettungsszenario mit seinen Brüdern. Wie stark verwandt sind die Brüder untereinander? Dazu sind in der nächsten Tabelle alle vier Brüder aus dem linken Beispiel gegeneinander aufgetragen und ihre Gemeinsamkeiten verglichen worden.
Sind beide Varianten gleich (=100%), ist der sog. Verwandtschaftskoeffizient r = 1. Im Schnitt ergibt sich ein Verwandtschaftskoeffizient zwischen Geschwistern von 0,5 (Summe 800% / Zahl der Kombinationen 16 = 50%). Einen solche Tabelle lässt sich auch für die Verwandtschaftsverhältnisse zu seinen Cousins aufstellen. Man selber hat zu seinen Cousins einen Verwandtschaftskoeffizienten von 0,125. Rettet man also zwei Geschwister (2 * 50% = 100%) oder acht Cousins (8 * 12,5% = 100%), hat man im Schnitt 100% seiner eigenen Gene gerettet.
5.2. Verwandtschaft bei Hummeln:
Bei Hummeln gibt es eine Besonderheit: Drohnen entstehen aus unbefruchteten Eiern, sie haben also nur eine Mutter, aber keinen Vater. Sie erhalten nur eine Variante eines Gens, sie bekommen also nur das Erbgut der Mutter. Dadurch entspricht ihr Erbgut zu 100% dem der Mutter, der Verwandtschaftskoeffizient ist 1 (oben).
Töchter, also die Arbeiterinnen, entstehen aus befruchteten Eiern. Sie sind zu jeweils 50% mit ihrer Mutter und ihrem Vater verwandt, denn sie bekommen von der Mutter eines der beiden Gene, vom Vater das andere (50%!).
Zur Erinnerung: Söhne sind zu 100% mit ihrer Mutter
und zu 0% mit einem Vater, den es gar nicht gibt, verwandt.
Arbeiterinnen sind zu 50% mit ihrer Mutter und
zu 50% mit ihrem Vater verwandt.
Vergleichen wir jetzt die Verwandtschaftsverhältnisse der Schwestern untereinander (oben). Hier zeigt sich erstaunlicherweise, dass die Schwestern im Schnitt zu 75% miteinander verwandt sind. Sie sind also mit ihren Schwestern näher verwandt als mit ihrer Mutter!
6. Erklärung des Beispiels „Staatenbildende Insekten“
Entsprechend der Verwandtenselektion ist das Verhalten der Arbeiterinnen, sich selbst nicht fortzupflanzen, sondern stattdessen die Königin bei ihrer Fortpflanzung zu unterstützen, sinnvoll und egoistisch. Wenn sie eigene weibliche Nachkommen hätten, trägen diese nur 50% ihres Erbguts, hat aber die Königin Nachkommen, haben diese 75% der eigenen Gene. Eine Förderung der Königin ist also die logische Schlussfolgerung, wenn in den Nachkommen möglichst viele eigene Gene vorkommen sollen.
Auch das Verhalten der oben erwähnten Ameisen ist nicht weiter verwunderlich, denn genetische Analysen haben ergeben, dass die genetische Variabilität, ein Maß für die Verwandtschaft, ausgesprochen gering, die Verwandtschaft also groß ist. Die Milliarden Tiere sind verhältnismäßig nahe miteinander verwandt und leben deshalb friedlich miteinander.
6.1. Besonderheiten bei Hummeln
Englische Forscher veröffentlichten im August 2004 eine Studie, die sie an Hummelstaaten der häufigen Art „Dunkle Erdhummel“ im Regent´s Park in London gemacht hatten (Lopez-Vaamonde et al., 2004). Durch DNA-Analysen wurde deutlich, dass in 17 von 32 Staaten insgesamt 81 Drohnen (im Schnitt 1,5% aller Drohnen) auftraten, die nicht von der Königin stammten. Wie konnte man das erklären?
Tatsächlich weiß man, dass es einen „competition point“ gibt, bei dem die Stimmung im Staat kippt. Die Königin hat zu diesem Zeitpunkt im Spätsommer damit begonnen Eier für Jungköniginnen und Drohnen zu legen, doch beginnen die Arbeiterinnen damit, die Königin zu beißen und zu treten. Die „Revolution“, die die Forscher beobachteten, ging so weit, dass die Arbeiterinnen eben eigene Eier legten und gleichzeitig versuchten, alle anderen Drohneneier anderer Arbeiterinnen oder der Königin aufzufressen. Da sie selbst niemals befruchtet wurden, entwickelten sich aus ihren Eizellen immer Drohnen (zum Teil die oben erwähnten 1,5%). Nach kurzer Zeit musste die alte Königin ihren Staat aufgeben.
In einer anderen Studie (Huth-Schwarz et al., 2011) an einer tropischen Hummelart konnte sogar gezeigt werden, dass im Schnitt unglaubliche 85% der Drohnen von Arbeiterinnen erzeugt wurden – hier hatte sich das Verhältnis komplett umgekehrt!
Erzeugerin: Arbeiterin aus dem Staat | Erzeugerin: Fremde Arbeiterin |
16 | 3 |
Die Untersuchung in London ging aber noch weiter (siehe Tabelle oben). Durch die DNA-Analyse zeigte sich, dass es Drohnen gab, die auch nicht mit den Arbeiterinnen des Staats verwandt waren, in denen sie aufgefunden wurden. Sie mussten Arbeiterinnen aus anderen Staaten als Erzeugerinnen gehabt haben, die dazu vorher in den fremden Staat eingedrungen waren. Dabei handelte es sich den Beobachtungen zufolge um verhältnismäßig aggressive Arbeiterinnen, die zum Teil beim Eindringen in einen Kampf verwickelt wurden. Im Schnitt fanden die Forscher pro Nest drei tote, fremde Arbeiterinnen.
Die aggressiven Arbeiterinnen tauchten vor allem in Nestern auf, in denen der „competition point“ noch nicht erreicht war. Dadurch waren sie in diesem Staat die ersten Arbeiterinnen, die Drohnen erzeugten.
Die Ergebnisse lassen sich gut als Beleg für die Richtigkeit der Theorie von der Verwandtenselektion nutzen. So erscheint es nur logisch, dass die Arbeiterinnen zwar die Königin fördern, sofern aus den abgelegten Eiern Schwestern werden (s. o.). Erzeugt die Königin aber Drohnen, werden die Arbeiterinnen aggressiv. Die von der Königin erzeugten Drohnen sind nur zu 25% mit der Arbeiterin verwandt. Gibt die Arbeiterin aber eigene Eier ab und agiert wie die Königin, besitzt der erzeugte Drohn nur das Erbgut der Arbeiterin, so dass der Verwandtschaftskoeffizient 1 beträgt (s. o.). Nach der Verwandtenselektion ist es sinnvoll, jedwedes Verhalten an den Tag zu legen, dass zu einem gehäuften Auftreten der eigenen Gene in der Nachkommenschaft führt. So ist es höchstens erstaunlich, dass nur 1,5% der Drohnen nicht von der Königin sind.
Noch optimaler ist ein Verhalten, bei dem die Drohneneier nicht ins eigene Nest gelegt werden, sondern ins fremde. Die schlüpfenden Drohnen würden dann direkt auf die unbegatteten Jungköniginnen der Nachbarkolonie treffen und sich dort sofort fortpflanzen. Diese Taktik ist besonders erfolgreich, wenn die Drohnen vor den anderen Drohnen erscheinen. Und eben dies haben die Forscher in England beobachtet, ein gutes Beispiel für die Verwandtenselektion. Auch Staatenbildende Insekten zeigen also nicht altruistisches Verhalten, auch sie verhalten sich lediglich (unbewusst) egoistisch.