Kurzfassung
Die gefürchteten und eigentlich bereits verbotenen Neonicotinoide sind über den Umweg einer Notfallzulassung wieder erlaubt. Das Gift darf unter bestimmten Bedingungen (z.B. mit Abstand zu blühenden Pflanzen) ausgebracht werden, überwacht wird das durch die Bundesländer.
UPDATE
23.12.2020: Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben sofort entsprechende Anträge gestellt. Der Einsatz der Insektizide ist dort bereits erlaubt. Von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Bayern, Hessen und Schleswig-Holstein liegen Anträge vor. Hoffnung kommt von der EU-Kommission: Sie prüft, ob die Notfallzulassungen überhaupt gerechtfertigt sind. Da mit einem Ergebnis der Prüfung aber erst in der 2. Hälfte 2021 zu rechnen ist, hat die Prüfung keinen Einfluss auf die Verwendung der Giftstoffe in der nächsten Aussaatphase.
Ausführlich
Günter Tissen hat wegen der Neonicotinoide seit Wochen viel Arbeit. Am Sonntag, 22.11. twitterte er, dass die „Zeit abläuft„. Stunden später schob er ein Foto von kranken Zuckerrübenpflanzen hinterher: „Sonst sieht es nächstes Jahr so aus.“
Günter Tissen ist Hauptgeschäftsführer der „Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker“. Sein Verband will die Interessen der Zuckerindustrie und der Zuckerrübenbauern „politisch fördern“ (Webseite).
Was freundlich klingt ist für den Verband längst ein harter Kampf geworden. Er will unbedingt erreichen, dass Substanzen, die für Hummeln und andere Bienen Nervengifte und eigentlich seit Jahren verboten sind, wieder erlaubt werden.
Deshalb sind die letzten Twitterbotschaften auch nicht mehr ganz so freundlich. Da geht es um eine Virusepidemie, der Verweis auf die Nutzung der Insektengifte in anderen Ländern und den Fragen: „Wann können [wir] endlich damit [gemeint sind die Insektengifte] rechnen? Wie lange noch?“ oder „Wann kommt endlich die Freigabe?„.
Es geht um die Neonicotinoide

Das sind Gifte, die Pflanzen vor Insekten schützen sollen, indem die Insekten von dem Gift sterben. Leider können eben auch die nützlichen Insekten davon sterben.
Neonicotinoide wirken als Nervengifte. Hummeln produzieren dadurch beispielsweise deutlich weniger neue Königinnen. Da nur diese einen neuen Staat gründen, sind direkte Auswirkungen auf den Bestand an Hummeln die Folge.
Zuckerrüben haben aber Blattläuse und diese übertragen einen Virus. Letzterer führt zu verringerten Ernten. Deshalb will der Verband das Gift wieder einsetzen dürfen. Obwohl es verboten ist, gibt es nämlich einen Ausweg: Die Notfallzulassung.
Notfallzulassung für Neonicotinoide?
Diese Notfallzulassung ist in der EU erlaubt, eine Reihe von Staaten hat sie bereits erteilt. In Frankreich wurde der „Notfall“ sogar bis Sommer 2023 (!) definiert, so dass bis dahin das Gift dort zum Einsatz kommen kann. In Deutschland ist für eine Notfallzulassung das Landwirtschaftsministerium zuständig.
Die Anträge dazu gibt es seit diesem September und mindestens
- die FDP (Die Anträge auf eine Notfallzulassung sind „zu priorisieren, umgehend zu bescheiden und im Falle eines positiven Bescheides Anwendungsauflagen nur mit Augenmaß zu erteilen.“ Quelle),
- CDU („Gerig verwies auf monatelange Bemühungen von Unionsagrarpolitikern, die hoffentlich demnächst zum Ziel führten. Eine positive Bescheidung der Anträge wäre nach Ansicht des CDU-Politikers ein wichtiges Signal…“, Quelle) und
- CSU
wollen die entsprechende Notfallzulassung kurzfristig umsetzen.
Ein Redakteur des Branchenblatts agrarheute formuliert sogar die Aussage, die Insektengifte seien „der umweltfreundlichste Pflanzenschutz überhaupt“. Er vergisst allerdings zu erwähnen, dass das Insektengift, als Beizmittel auf die Samen aufgebracht, in den Boden und ins Grundwasser gelangt und dort das gesamte Ökosystem lange Zeit belastet (Goulson D, 2013: An overview of the environmental risks posed by neonicotinoid insecticides. In: Journal of Applied Ecology. Band 50, 2013, S. 977–987, doi:10.1111/1365-2664.12111).
Es gibt Alternativen: Aber die passen nicht zur konventionellen Landwirtschaft
Diese Entwicklung wäre ein erheblicher Rückschlag für den Hummel- und Insektenschutz. Und das nur aus einem einzigen Grund:
Die Gründe für die beantragten Notfallzulassung sind rein wirtschaftlicher Natur.
Deutscher Berufs- und Erwerbsimkerbund e.V.
Dabei gäbe es nach Ansicht des Umweltinstituts München e.V. durchaus Alternativen, die aber nicht mit den Methoden der Agrarindustrie vereinbar sind:
Dass der Zuckerrübenanbau auch ohne den Einsatz von Neonicotinoiden und ähnlich wirkenden chemisch-synthetischen Insektiziden möglich ist, zeigen Landwirt:innen, die nach ökologischen Kriterien wirtschaften. Sie greifen zu ackerbaulichen und vorbeugenden Maßnahmen wie der Förderung von gleichmäßigen und geschlossenen Beständen, der Förderung einer raschen Jugendentwicklung, der Beachtung einer räumlichen Entfernung zu anderen Wirtspflanzen, der Bekämpfung von Beikraut-Wirtspflanzen auf dem Rübenschlag und auf benachbarten Schlägen, dem Vermeiden von Durchwuchs von Rübenmieten sowie der Förderung der zahlreichen natürlichen Fressfeinde der Grünen Pfirsichblattlaus.
Umweltinstitut München e.V.
Im Bio-Landbau werde man mit den Blattläusen fertig, meint auch der französische Bio-Berater Loïc Tridon.
Trotz Schädlinge eine größere Ernte?
Dass die Notfallzulassung überhaupt notwendig ist, darf zumindest als grundsätzliche Aussage bezweifelt werden. So ist die Ernte an Zuckerrüben in Niedersachsen in diesem Jahr sogar gestiegen – trotz geringerer Anbaufläche.
Die Regelung im Detail
Gegen eine pauschale Zulassung sperrte sich in den Gesprächen aber wohl die SPD. So ist wohl wenigstens eine deutschlandweite Notfallzulassung vom Tisch. Das Handelsblatt berichtet, dass die Bundesländer vor einer Erlaubnis Vor-Ort Prüfungen durchführen müssen, der Landwirt ausreichende Abstände zu blühenden Pflanzen einhalten muss und direkt nach den Zuckerrüben keine für Bienen attraktiven Blühpflanzen angebaut werden dürfen, das Gift ist schließlich weiterhin im Boden und kann von den Blühpflanzen aufgenommen werden. Die Bundesländer müssen die Maßnahmen überwachen.
Notfallzulassung bewahrt Agrarindustrie vor nötigen Änderungen
Kein Wunder, dass die Landwirte, die auf eine pauschale Erlaubnis gesetzt hatten (wie in anderen Staaten), schäumen. Die Kommentare auf einer Branchenseite zeigen das.
Die Notfallzulassung würde in jedem Fall einen Wandel in der Landwirtschaft verhindern, denn die Bauern könnten so weiter machen wie bislang. Und wenn dann die Notfallzulassung eines Tages ausläuft, dürfte längst ein anderes Spritzmittel wieder zugelassen sein.
So könnte es nämlich auch mit Glyphosat laufen. Eigentlich sollte es so schnell wie möglich verboten werden (Bundeslandwirtschaftsministerium April 2018), ein Ausstieg ist jetzt wohl für den 31.12.2023 angepeilt. Und nach Aussage des Grünen-Politikers Harald Ebner haben „Bayer sowie weitere Hersteller haben inzwischen in aller Seelenruhe ein neues Zulassungsverfahren für Glyphosat für die Zeit nach 2023 gestartet“.
Meinen Kommentar möchte ich mit einem Zitat aus dem offenen Brief des o.g. Imkerverbands beenden:
Die Gründe für die beantragten Notfallzulassung sind rein wirtschaftlicher Natur. Dies ist weder eine Rechtfertigung noch eine Lösung. Wenn die Ausnahmeregelung ausläuft werden die Bauern noch immer vor dem gleichen Problem stehen. Es muss zwingend nach Alternativen gesucht werden. Ein zu geringer Preis für die Zuckerrübenbauern darf kein Grund für eine Aufhebung des Verbotes sein. Das wäre quasi ein Freibrief für andere Branchen, die durch ein fehlendes Pestizid ebenfalls Umsatzprobleme bekommen. Eine Notfallzulassung der zwei Pflanzenschutzmittel wäre ein Rückschritt…
Deutscher Berufs- und Erwerbsimkerbund e.V.
vielleicht wäre eine Unterschriftensammlung bzw. Petition sinnvoll um die Notfallzulassung zu verhindern?
Grüße von Dr. A. Stautner
Ja, vielleicht
Probieren können wir es doch ?
Es geht immer nur um´s Geld! Wer braucht schon soviel und mehr Zucker? Die Industrie bringt immer neue Naschwerke und Getränke auf den Markt, in denen immer zuviel Zucker steckt und krank macht, von Kindesbeinen an. In einem normalen Haushalt fällt nicht viel Zucker an, wenn man sich gesund ernähren möchte.
Hier könnte man noch vieles aufzählen.
Wir brauchen eine gesunde Landwirtschaft, im Einklang mit der Natur und keine Gifte! Es betrifft nicht nur die Hummeln. 70% der Insekten sind oder werden bald aussterben. Wie werden unsere Kinder und Enkel leben müssen?
Genau
Und nicht alle achten darauf oder versuchen sich auszukennen
Mir wäre es lieber, wenn die Tüte Zucker doppelt so viel kosten würde und diese Erlöse den Herstellern zu Gute käme, damit die sich mit den alternativen Methoden anfreunden könnten. Leider ist da aber die Faulheit und Geldgier der Industrie, der Zwischenhändler und nicht zuletzt der Konsumenten ausschlaggebend, dass es dazu nicht kommen wird. Der Mensch lernt erst, wenn es kurz vor knapp ist. Siehe Klimawandel, Corona u.s.w. Irgendwann wir der Aufschrei der Menschen kommen.
Falls es Bemühungen gäbe, dieser Notfallzulassung entgegenzutreten, wäre ich in jedem Fall dabei.
Ja, alles ist richtig !
Die Kindergärten und Schulen versuchen es den Kindern beizubringen, zu wenig, zu selten
ich auch
Unsere armen Hummeln und alle anderen Insekten.
Verantworliche und Befürworter = Initiative FÜR das Insektensterben.
Das macht mehr als sprachlos!!!
Diese Geldgier ist das Element der Zerstörung schlechthin. Aber der große Paradigmenwechsel, den viele Menschen jetzt leben werden, wird die Insekten und die Natur an sich, wieder in den Mittelpunkt stellen. Danke für diese Informationen!
Wo bleibt denn nun der Aufschrei der GRÜNEN.Unsere Insekten sterben,wen interessiert es? Wie wäre es mit einer Pedition zum Bundeslandwirtschaftsministerium?!
Wir alle wissen um die Giftwirkung. Siehe http://www.proinsect.de
Hermann Schultka Gartenbaulehrer
das ist nicht nachzuvollziehen, wo doch inzwischen bekannt ist, was dass Zeug in der Natur anrichtet.
ich kann es immer gar nicht glauben, dass die Menschen noch immer nicht kapieren dass wir auf einem untergehenden Schiff sitzten wenn wir nicht endlich …
Unterschriftensammlung hört sich gut an. Einen Versuch wär`s wert und reden, reden, reden mit den Landwirten. Manchmal gibt`s kleine Teilerfolge. Und beten …
Unsere vorsorgliche Regierung lehnt eine Notfallzulassung beim Coronaimpfstoff kategorisch ab. Zitat Spahn:“ Hier gilt Sicherheit vor Schnelligkeit.“ Wenn es um eine Notfallzulassung für Gifte geht , die Nachweislich unsere Mitgeschöpfe wie z.B. Insekten beeinträchtigt oder tötet , legt unsere Regierung andere Maßstäbe an.
Gestern wurde in unmittelbarer Nähe ein „Rapsfeld“ gespritzt; heute finde ich in unserem Garten viele tote Hummeln. Kann das mit der Spritzung zusammenhängen oder sind sie verhungert?
Verhungert eher nicht, aber woran sie gestorben sind, lässt sich nicht von hier aus sagen. Eine Untersuchung wäre aber sehr wichtig.